Das Immunsystem - Siebter Sinn, Verhalten und Psyche
Die Sinneswahrnehmung des Menschen
Das menschliche Verhalten wird durch die kognitive Verarbeitung von externen und internen Reizen beeinflusst. Dazu kann er sich auf die bekannten Sinne Sehen, Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen und den Gleichgewichtssinn verlassen. Zusätzlich sammelt der Mensch im Laufe seines Lebens unzählige Erfahrungen, die sein Verhalten prägen. All diese Stimuli und Erfahrungen schaffen so ein individuelles Verhaltensmuster. Sie geben dem Menschen seine Identität, bestimmen seine Persönlichkeit und seinen Charakter.
Die beschriebenen Sinnesorgane sind durch neuronale Netzwerke in bestimmten Arealen im Cortex (Großhirnrinde) repräsentiert. Je feinfühliger die Wahrnehmung eines Sinnesorgans ist, desto engmaschiger ist dieses Netzwerk über Synapsen im Gehirn angelegt. Dabei werden aber nicht alle Reize gleichzeitig bewusst verarbeitet. Viele Sinneseindrücke laufen im Hintergrund, nämlich im Unterbewusstsein ab.
Der Mensch hat in seiner Entwicklung gelernt, seine Aufmerksamkeit selektiv auf die Reize zu lenken, welche im jeweiligen Moment die wichtigsten sind. Immer mit dem Hintergrund, dass das ausgelöste Verhalten keine körperlichen und psychischen Schäden nach sich zieht. Alle anderen Reize laufen im „Stand-By Modus“, dem Überwachungsmodus ab. Sollte eine potentielle Gefahr wahrgenommen werden, so kommt es schlagartig zu einer angepassten und bewussten Lenkung der Aufmerksamkeit.
Automatisierungs- und Lernprozesse sind ebenfalls dafür verantwortlich, dass wir nicht ständig alle Reize und Sinne bewusst wahrnehmen. Wer hat etwa beim Laufen ständig im Kopf, ob nun das linke oder rechte Bein nach vorne bewegt werden muss? Stellt sich jedoch ein Hindernis in den Weg, so wird dieser Automatismus sofort unterbrochen und die Aufmerksamkeit neu ausgerichtet.
Das menschliche Verhalten wird also durch externe und interne Sinneseindrücke und durch die Erfahrungen des täglichen Lebens geprägt. Die kognitive Verarbeitung der Reize sorgt schlussendlich für das Treffen von Entscheidungen, ist Grundlage für psychische und emotionale Reaktionen und steuert unser soziales Verhalten und prägt somit unser gesamtes Leben sowie einzelne Handlungen.
„Nichts in der Medizin macht Sinn ohne die Grundlagen der Biologie.” - F. Muskiet, 2005
Das Immunsystem - der „Siebte Sinn“
Das Verhalten des Menschen wird jedoch nicht nur durch die bereits beschriebenen Sinnesorgane und Erfahrungen beeinflusst. Auch interne Prozesse führen dazu, dass sowohl kurz als auch langfristige Verhaltensänderungen ausgelöst werden können. Eine dominante Rolle bei diesen internen Prozessen spielt das Immunsystem, was ihm in der Literatur auch den Begriff des „Siebten Sinn“ gebracht hat.
Bis vor kurzem hatte man vermutet, dass das zentrale Nervensystem nicht direkt mit den immunologischen Prozessen in der Peripherie (den restlichen Körper betreffende) in Kontakt kommt. Heutzutage weiß man jedoch, dass diese beiden Systeme über Lymphgefäße der Gehirnhäute miteinander kommunizieren und sich wechselseitig beeinflussen! Da sie die gleichen Botenstoffe und Moleküle zur Kommunikation verwenden, ist es biologisch gesehen nachvollziehbar, dass diese beiden Systeme eng in Kontakt stehen. Bis jetzt konnte man jedoch nicht genau erklären, wie diese Kommunikation abläuft. Die Blut-Hirnschranke galt nämlich für alle immunologischen Zellen und potentiellen Krankheitserreger aus dem restlichen Körper des Menschen als undurchlässig. (1)
Die 3 Achsen zwischen Gehirn und Körper
In der Literatur werden somit heutzutage drei dominante Kommunikationsachsen zwischen dem zentralen Nervensystem im Gehirn und dem Immunsystem in der Peripherie beschrieben. Die bereits erwähnte Wechselwirkung über die Lymphgefäße der Gehirnhäute bildet die neueste Grundlage zu diesem Informationsaustausch.
Ein weiteres System ist schon länger bekannt und wird als sympathisches Nervensystem (SNS) bezeichnet. Das SNS regelt die Aktivität spezifischer Immunzellen mit Botenstoffe die Neurotransmitter genannt werden. Die Bedeutendsten sind Adrenalin und Noradrenalin. Manche immunologischen Mechanismen werden durch diese beiden Neurotransmitter gestärkt und andere wiederum geschwächt.
Die zweite wesentliche Achse läuft über das Stresssystem ab (HPA-Achse). Das als Stresshormon bekannte Cortisol hat normalerweise hemmende Wirkung auf das Immunsystem. Das ist die evolutionäre Erklärung dafür, warum das Gehirn bei einem gesunden Menschen am Tag und das Immunsystem in der Nacht dominant aktiv ist, da hier das Stresshormon kaum wirkt. Diese Balance ändert sich natürlich bei Erkrankungen, Verletzungen und vor allem bei chronischen Belastungen. Bei Krankheit kann das Hormon Cortisol das Immunsystem auch aktivieren. Durch die langfristig erhöhte Ausschüttung des Stresshormons, verlieren die Immunzellen die Empfindlichkeit darauf und das Hormon verliert seine hemmende Wirkung auf immunologische Prozesse - die Folge sind chronische Entzündungsprozesse.
Der wesentliche Unterschied der drei beschriebenen Kommunikationsachsen liegt in der Art und Struktur des Botenstoffes. Das Nervensystem sendet Neurotransmitter, das endokrine System Hormone und das Immunsystem Zytokine aus. Diese Botenstoffe geben die Information über die Blutbahn bzw. über die Nerven an das Zielorgan/die Zielzelle weiter, wo sie die entsprechenden Reaktionen auslösen. (3)
Kurz erklärt:
Der Cortex bildet die äußerste
Nervenschicht des Gehirns.
Als „Sickness Behaviour“ wird
das Verhalten während einer Erkrankung beschrieben.
Das „Behavioural Immunsystem“ beschreibt
das psychologische Verhalten um vor Gefahren und Krankheit zu schützen.
Das Immunsystem und der Einfluss auf die Psyche und das Verhalten
Durch die Erkenntnis, dass das Immunsystem direkt mit dem zentralen Nervensystem kommuniziert, wird auch dessen Einfluss auf die Psyche und unser Verhalten neu interpretiert. Die veränderten Signale bei chronisch immunologischer Belastung haben jedoch nicht nur Einfluss auf Verhaltensareale im Gehirn. Sie beeinflussen den gesamten Gehirnstoffwechsel. Beide Systeme (das Gehirn und das Immunsystem) sind metabolisch ziemlich „teuer“. Das heißt, bei Aktivität brauchen sie sehr viel Energie in Form von Glucose (Zuckermolekül). Sind beide Systeme gleichzeitig aktiv, würde es zu einer Unterversorgung und einer reduzierten Funktionalität anderer Organe kommen. Das ist der Grund, warum das Immunsystem bei chronischer Belastung beginnt den Gehirnstoffwechsel zu dominieren und zu unterdrücken. (2)(3)
Der oben beschriebene Zusammenhang zwischen dem Immunsystem, der Psyche und der Gehirnaktivität lässt sich am besten durch zwei anschauliche Situationen aus dem Alltag beschreiben.
Beispiel 1:
Jedes Jahr, fast immer zur gleichen Zeit zieht die Grippewelle ins Land und löst bei vielen Menschen die typischen Beschwerden aus. Trifft den einen nur eine leichte Erkältung, so kann die echte Grippe, ausgelöst durch den Influenza-Virus, auch starke Symptome wie hohes Fieber, Schüttelfrost, Kopfweh und Schweißausbrüche verursachen. Das Immunsystem reagiert je nach Grad der Infektion demnach unterschiedlich stark auf den Virus. Dabei braucht es zur Bekämpfung des Virus Unmengen an Energie. Um diesen Mehrbedarf zu decken, setzt es Botenstoffe frei, die andere Organe und Systeme in ihrer Funktion hemmen. Über die bereits beschriebenen Kanäle wirken diese Botenstoffe auch auf den Gehirnstoffwechsel, was sich unmittelbar in einer Verhaltensänderung äußert.
In der Literatur wird dieser Zustand als „Sickness Behaviour“ bezeichnet und mit einem leicht depressiven Gemütszustand verglichen. Man will nichts essen, zieht sich zurück und meidet soziale Kontakte, es fehlt die Motivation um sich zu bewegen und hat generell eher negative Gedanken. All diese Verhaltensäderungen sind kurzfristig notwendig um möglichst viel Energie für die Bekämpfung des Krankheitserregers zu mobilisieren. Ist der Krankheitserreger schlussendlich beseitigt, reduziert das Immunsystem seine Aktivität und es stellt sich wieder ein energetisches Gleichgewicht zwischen allen Organen und Systemen ein. Auch das Verhalten und der Gehirnstoffwechsel normalisieren sich wieder, was sich in einer gesteigerten kognitiven Leistungsfähigkeit äußert. (2)(3)
„Primo vivere e dopo filosofare“ (zuerst überleben und dann philosophieren) - Pruimboom 2020 (2)
Es gibt aber auch noch einen evolutionären Hintergrund für die krankheitsbedingte Verhaltensänderung. Der soziale Rückzug hat den Vorteil, dass andere Artgenossen nicht mit dem gleichen Virus angesteckt werden können. Das veränderte Verhalten bei einer Grippe, hat somit kurzfristig nicht nur Vorteile für das Individuum sondern auch für sein näheres soziales Umfeld. Es geht aber noch weiter. Anders als Bakterien vermehren sich Viren vorwiegend in dicht besiedelten Gebieten und großen sozialen Verbänden. Das mag im ersten Moment beängstigend wirken, war aber evolutionär gesehen nie ein gravierendes Problem. Durch den vermehrten Kontakt mit Viren in einem größeren sozialen Umfeld, wird auch die antivirale Kompetenz des Immunsystems gestärkt. Personen die also ständig in Kontakt mit anderen Menschen sind, haben daher einen größeren Schutz vor viralen Infektionen.
Beispiel 2:
Im Laufe der Evolution und durch die Erschließung neuer Territorien fand der Mensch wiederholt neue Nahrungsmitteln vor. Nichtwissend ob diese für den Organismus bekömmlich waren, lernte er durch das Ausprobieren und den Geruch, gesunde von giftigen Nahrungsmitteln zu unterscheiden. Auch hier prägte das Immunsystem das Verhalten des Menschen nachhaltig. Das ist auch der Grund warum der Mensch tendenziell eher zurückhaltend beim Ausprobieren von neuen Lebensmitteln ist. Ekel als psychologisches Abwehrverhalten eines bestimmten Lebensmittels ist daher als immunologisch gesteuerter Prozess zu betrachten. In der Literatur wird dieses Verhalten dem „Behavioural Immunsystem“ zugeordnet. Es beschreibt die psychologischen Mechanismen, die es dem Menschen ermöglichen, potentielle Gefahren in seiner Umwelt zu erkennen und zu vermeiden. (2)(3)
Auf einen Blick:
zu den bekannten Sinnen des Menschen zählen Sehen, Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen und der Gleichgewichtssinn.
das Immunsystem kommuniziert über lymphatische Gewebe der Gehirnhäute mit dem Gehirn und gibt den Gesundheitszustand des Körpers wieder. Es wird daher als „Siebter Sinn“ betrachtet.
ist das Immunsystem sowohl kurz- als auch langfristig aktiv, dominiert es alle anderen Sinne und Organe - „das Egoistische Immunsystem“
durch diese immunologische Aktivität verändert sich der Stoffwechsel und die Aktivität im Gehirn und somit das Verhalten und die Psyche - „Sickness Behaviour“
Zusammenfassung
Durch die Entdeckung neuer immunologischer Bahnen, kommt dem Immunsystem eine neue bedeutende Rolle in der Gehirngesundheit zu. Diese Verbindungen haben auch Auswirkung auf unser Verhalten und unser psychisches Erleben.
Referenzen:
(1) J. Kipnis. Immune system: the “seventh sense”. J. Exp. Med., 215 (2018), pp. 397-398.
(2) Pruimboom, L., Raison, C. L., Muskiet, F. The Selfish Immune System when the Immune System Overrides the ‘Selfish’ Brain. J Immunol Clin Microbiol. 2020, 5(1), pp 1-34.
(3) Slavich, G. M. “Psychoneuroimmunology of stress and mental health,” in The Oxford Handbook of Stress and Mental Health, eds K. L. Harkness and E. P. Hayden (New York, NY: Oxford University Press), pp. 519–546.
Für den Inhalt
verantwortlich:
healthquarter OG
Autor: Mag. Andreas Altenhofer
Co-Autor: Gerhard Altenhofer, MSc
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